Seelenbilder

Seelenbilder

Einer meiner wenigen ewigen Helden, Alexander von Humboldt (1769 – 1859), schätzte die Eigenheit des Küstenstreifens: „Die Kurische Nehrung ist so merkwürdig, dass man sie eigentlich … gesehen haben muss, wenn einem nicht ein wunderbares Bild in der Seele fehlen soll.“

Vor vielen Jahren bin ich seinen Fußspuren eine viel zu kurze Zeit durch Südamerika gefolgt. Nun also die Kurische Nehrung. Dabei stellt sich die Frage, welche wunderbaren Bilder uns bisher in der Seele geblieben sind.

Beate nennt die heiligste aller indischen Städte zuerst: Varanasi, wo am Gangesufer rund um die Uhr Leichen auf Scheiterhaufen verbrannt werden. Dazu käme noch das Taj Mahal, das wir 2001 in den frühen Morgenstunden auf der Rückseite und der anderen Seite des Flusses haben erleben dürfen (dringender Tip an alle, die da mal hin wollen: nicht mit dem Touristrom durch den Haupteingang, sondern frühmorgens auf die andere Seite des Flusses und dann staunen …). Außerdem fällt ihr noch schnell der Ayers Rock in Australien ein.

Ich selber kann da gar keine Top 3 benennen. Sicherlich ist Indien mit weitem Abstand das intensivste Reiseland. Doch es gab auch in anderen Ländern eine Menge außergewöhnlicher Erlebnisse. Und heute wollten wir feststellen, ob und wie wir von Humboldt folgen können.

MC Hells Schmitze on Tour

Dazu mieten wir uns am Vormittag ein Moped. Das muss so sein. Schon auf diversen Reisen durch asiatische Länder hatten wir das immer wieder gemacht, obwohl oder manchmal auch gerade weil der Verkehr in Asien eine ganz eigene Herausforderung darstellt. Der Verkehr stellt uns hier vor keinerlei Herausforderungen. Stattdessen genießen wir die Fahrt mit bis zu 70 km/h durch den auch hier vorherrschenden Nadelwaldtunnel.

Der erste Stop: Das kleine Örtchen Nida diente einst Thomas Mann und seiner Familie Anfang der 30er als Sommerresidenz. „Der Landstreifen (Kurische Nehrung) ist 96 Kilometer lang und so schmal, dass man ihn in 20 Minuten oder einer halben Stunde bequem vom Haff zur See überqueren kann“, beschreibt Thomas Mann in seinem „Niddener Tagebuch“ die im Ostseeraum in ihrer Art einzigartige Halbinsel.

Ok, dies ist ein guter Moment, um auf ein paar wesentliche Unterschiede zwischen Thomas Mann und mir hinzuweisen. Mann war in der Schule relativ schlecht in Deutsch und erhielt später den Literaturnobelpreis. Ich war in der Schule ziemlich gut in Deutsch und …

Das Thomas Mann Haus in Nida

Mann sah von seinem Sommerhaus hier in Nida hinab aufs Meer und nannte es schwärmerisch seinen „Italienblick“. Beate und ich sitzen heute an der selben Stelle und nennen es … tja …. also … äh … hm … Blick aufs Meer. Keine Ahnung, was der Kerl damals geraucht hat, aber das hätten wir auch gerne.

Hauptattraktion von Nida ist die Hohe Düne, die zwischen dem Ort und der Grenze zum russischen Gebiet Kaliningrad (Königsberg) über 50 Meter hoch aufragt. Man darf sie – eine der höchsten Dünen Europas – betreten, muss jedoch auf den Hauptwegen bleiben. „Kennen Sie die Dünen von List auf Sylt?“, fragt Thomas Mann. „Man muss sie sich verfünffacht denken, man glaubt, in der Sahara zu sein…

In der Sahara? Ja, die Dünen sind wirklich hübsch. Aber nach Manns Logik hätte er die Dorfkirche auch „Pertersdom von Nida“ bezeichnen müssen. Ihr seht schon: Manns Seelenbildern können wir hier nun wirklich nicht folgen. Doch tragisch ist das nicht, sondern etwas ganz anderes:

Die Tragik der Heimwehtouristen

Es sind die zahlreichen „Heimwehtouristen“. Deutsche Touristen, meist tief in ihren 70ern und älter, die hier hinkommen um ein Stück Heimat zu suchen, dass sie vielleicht einst mal hatten. Ein Unterfangen, dass tragischerweise scheitern muss. Was einst war ist nicht mehr und wird nie wieder sein. Vielleicht findet der eine oder andere wenigstens ein kleines Puzzlestück seines Seelenbildes. Vielleicht hilft der Aufenthalt hier dem einen oder anderen auch etwas sehr altes endlich loszulassen. So oder so, es sei ihnen gegönnt.

Gut 25 km von Nida entfernt liegt der kleine Ort Joudkrante. Hier stehen die wohl ältesten Bäume der Kurischen Nehrung. Und ganz neu, ein „Stimmenfänger“. Ein großer, hölzerner Trichter mitten im Wald. „Wer hineinkriecht und sich Zeit nimmt, hört die Geräusche des Waldes besonders intensiv“, heißt es auf einer Internetseite.

Klingt gut. Nach einer Weile entdecken wir den Trichter und ich krieche und lege mich – wie auf einem davor aufgebauten Hinweisschild dargestellt – hinein. Tatsächlich höre ich die Geräusche des Waldes äußerst intensiv. Genauer das Summen von Wespen. Die haben sich in einer Ritze zwischen Trichter und Waldboden ein Nest gebaut. Ich will die Geschichte nicht unnötig aufbauschen, deshalb hier die Kurzfassung: Im Laufe des weiteren Tages schwillt meine rechte Hand bemerkenswert an.

Das ist nun wirklich kein Bild für die Seele, aber Beate ein Foto wert. Stück für Stück brausen wir von da zurück nach Nida. Die Sonne strahlt vom Himmel und wir genießen den Nachmittag. Am frühen Abend dann setzen wir uns in ein von TripAdvisor empfohlenes Lokal, schlürfen ein Bier, fragen uns, ob die Kurische Nehrung tatsächlich so ein wunderbares Bild in unserer Seele hinterlässt, da knallt es plötzlich. Ein paar Menschen rennen an uns vorbei. Ein Popcorn-Stand in unmittelbarer Nähe hat – aus welchen Gründen auch immer – Feuer gefangen. Niemand kommt körperlich zu schaden. Die Feuerwehr ist bereits nach wenigen Minuten vor Ort und löscht.

 

Am Ende eines ereignisreichen Tages würde ich meinem alten Helden Alexander von Humboldt liebend gerne zustimmen und schreiben, dass man die Kurische Nehrung unbedingt gesehen haben müsse, sonst würde ein Bild in der Seele fehlen. Doch ganz ehrlich: Die Welt hat wesentlich spannenderes, dramatischeres, intensiveres und schöneres zu bieten. Die Weite des australischen Outbacks, die Stille und Tierwelt Namibias, die kulturelle Intensität Indiens, die Herzlichkeit der Khmer, die unendlich klare Luft der Anden … und noch so manches mehr. Von daher wird die Kurische Nehrung wohl nicht Bestandteil unserer Seelenbilder.

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